Tattoos 🤔

Zwischen Körperkunst und Lärmschutzwand

Ein tätowierter Kommentar zum bunten Massenphänomen

Manchmal denke ich, ich bin in einer Dauerausstellung zeitgenössischer Straßenkunst gelandet – allerdings ohne Einladung, ohne Konzept, und ohne Ausweg. Wo man früher noch echte Wände besprühen musste, um seine innere Leere bunt zu übermalen, reicht heute ein Oberarm. Oder ein Rücken. Oder direkt die ganze Hautfläche, die nicht als gesetzlich geschütztes Biotop gilt.

Tätowierungen – einst ein stilles Statement, heute ein kollektiver Hilfeschrei im Pantone-Farbfächer. Was früher mal Seeleute, Knackis oder schamanische Priester als Ausdruck von Lebensgeschichte, Rebellion oder Spiritualität trugen, ist heute zum hautfarbenen Lifestyle-Accessoire geworden.

Der neueste Trend: Menschen zwischen 18 und 35 lassen sich mit einer Ăśberzeugung tätowieren, die ungefähr so tiefgrĂĽndig ist wie der Schaum auf ihrem Hafermilch-Cappuccino. „Weil’s halt geil aussieht“ – sagt der Unterarm voller Rosen, Schädel und Uhrwerke. Bedeutungen? Null. Hauptsache geometrisch. Oder Tiermotiv. Oder SprĂĽche in schlecht gestochenem Sanskrit, der wahrscheinlich „Beilagensalat“ heiĂźt.

Ich frage mich ernsthaft: Ist das noch Haut? Oder schon die Preview der nächsten Berliner S-Bahn-Unterführung?

Egal wo man hinschaut – Tattoos! Jeder zweite Unterarm schreit: Ich bin individuell! – natürlich exakt gleich individuell wie die 500 anderen Arme im Fitnessstudio, die ebenfalls mit Uhren, Löwen, Mandalas und „Carpe Diem“ verziert wurden. Es ist ein wenig wie Einbauküchen von der Stange, nur dass man sie nicht mehr rausreißen kann, wenn der Geschmack sich ändert. Und der ändert sich – versprochen.

Apropos Geschmack: Der ist bekanntlich subjektiv. Trotzdem, darf ich ganz ehrlich sein? Die Ästhetik dieser Ganzkörperkritzeleien erinnert mich zunehmend an Notizzettel neben dem Bürotelefon. Oder eben an eine Lärmschutzwand im Duisburger Norden – wild, bunt, konzeptlos, und keiner weiß, ob es Kunst ist oder einfach nur jemand ausgerutscht ist.

NatĂĽrlich, natĂĽrlich – jeder wie er mag. Freiheit und so. Ist ja auch der eigene Körper. Aber mĂĽssen wir wirklich so tun, als wäre das alles immer „Kunst“? Als ob die Waden-Tiger und Nacken-Papageien Ausdruck innerer Tiefe wären? Ich sag’s mal so: Wenn der Postbote aussieht wie ein Mitglied der Yakuza und der Kindergärtner den Eindruck macht, er hätte im Knast studiert – dann darf man zumindest kurz mal mit der Stirn runzeln.

Und was mich am meisten nervt: die völlige Ironiefreiheit, mit der sich viele in dieses bunte Kollektiv-Ich eintätowieren lassen. Jeder will „anders“ sein – indem er genau das tut, was alle anderen auch tun. Das ist wie ein Aufkleber auf dem Auto mit „Don’t follow me – I’m lost too“. Danke für den Hinweis.

Versteht mich nicht falsch: Wer sich tätowieren lassen will, soll das tun. Gerne auch großflächig, bunt, spiegelverkehrt und mit Einhorn-Content. Der Körper gehört jedem selbst, genau wie die Entscheidung, sich irgendwann einmal auf der Haut den Irrtum der eigenen Jugend für immer einzubrennen.

Ich fĂĽr meinen Teil bleibe lieber unbeschrieben. Nicht aus Angst. Sondern aus Stil. Denn manchmal ist Haut einfach schöner, wenn man sie einfach nur… trägt.

Haut wie neu – Die große Rückwärtsrolle

Und dann wäre da noch das stille Kapitel der Rückabwicklung. Die Tattoo-Entfernung – eine wunderbare Metapher für das menschliche Reuevermögen. Sobald das chinesische Zeichen für „Stärke“ sich nach fünf Jahren als „Frittierfett“ entpuppt oder das Arschgeweih beim Rückentraining mit der Tochter Fragen aufwirft, wird’s plötzlich hektisch. Dann stehen sie da – in der Hautklinik, mit ernster Miene und dem Wunsch, den Rotwein-Flecken der Lebensentscheidungen mit Laserstrahlen zu begegnen.

Das Schöne daran: Die Prozedur ist teuer, schmerzhaft und meistens nur halb erfolgreich – also genau wie die Entscheidung fürs Tattoo damals. Nur rückwärts.

Und während die Farben langsam verblassen wie der Enthusiasmus nach der fünften Paartherapie, bleibt am Ende die Erkenntnis: Vielleicht hätte man doch beim Stickeralbum bleiben sollen.

Top 5 der meistgestochenen Tiefsinnigkeiten (laut RĂĽcken und Rippenbogen):

  1. Carpe Diem – Klingt wie ein Lebensmotto, ist aber oft nur der Versuch, das Sofa nicht zu verlassen.
  2. Only God can judge me – Gesprochen von jemandem, der schon nervös wird, wenn der DHL-Bote komisch guckt.
  3. Familia über alles – Außer an Weihnachten, da wird geschwiegen.
  4. Believe in yourself – Direkt unter dem Augen-Make-up-Tattoo mit eingebautem Selbstbetrug.
  5. In der Ruhe liegt die Kraft – Gestochen auf einem Typen, der im Gym sein Proteinpulver anschreit.

Fazit:

Kunst liegt im Auge des Betrachters – und der Blick auf manches Tattoo liegt irgendwo zwischen Augenzwinkern und Augenkrebs. Wer’s mag, bitte sehr. Aber schön muss ich’s nicht finden. Und cool erst recht nicht.

🎤 Live dabei: Im Gespräch mit einem Trend-Tätowierten

Meckerbude im Interview – Heute mit Kevin-Jay, 29, leidenschaftlicher Unterarm-Poet, NFT-Sammler und Teilzeit-Barista mit Vollbart. Seine Haut erzählt Geschichten – wir haben nachgefragt.

Meckerbude: Kevin-Jay, du bist ja von Kopf bis Knöchel tätowiert. Wann fing das an?

Kevin-Jay: Also so richtig fing das an, als ich mein erstes Selfie mit Filter gemacht hab. Da wusste ich: Mein AuĂźen braucht mehr Innen. Oder umgekehrt. Das erste Tattoo war ein Kompass.

Meckerbude: Bist du denn Seefahrer?

Kevin-Jay: Nee, aber ich bin ein Suchender. Vor allem nach WLAN und Bedeutung.

Meckerbude: Was bedeuten denn deine Tattoos konkret?

Kevin-Jay: Gute Frage. Also der Totenkopf mit Rosen steht für die Zerbrechlichkeit des Lebens. Oder für mein Abi 2015, bin mir nicht mehr sicher. Und die Uhr ohne Zeiger – mega deep – soll zeigen, dass Zeit relativ ist. Oder dass ich verschlafen hab.

Meckerbude: Und das Gesichtstattoo?

Kevin-Jay: Das ist ’ne Träne. Symbolisiert meine emotionale Tiefe. Und dass ich mal aus dem Club rausgeflogen bin, weil ich Cro gespielt hab.

Meckerbude: Gibt es etwas, das du heute anders machen wĂĽrdest?

Kevin-Jay: Ja, das Barcode-Tattoo auf’m Nacken. War ne Kunstaktion. Leider scannt’s bei Rewe nicht.

Meckerbude: Letzte Frage: Warum glauben so viele, Tattoos machen einen einzigartig?

Kevin-Jay: Na weil wir alle individuell sind, Bro! Ich mein, klar haben 12 meiner Freunde denselben Mandala-Oberarm – aber eben in anderen Graustufen.

Meckerbude: Vielen Dank fĂĽr’s Gespräch.

Kevin-Jay: Gerne, Bruder. Kann ich dich noch rasch tätowieren? Ich hab mein Set dabei. Wird auch safe meaningful.

🎯 Tattoo-Bingo

In der Schule, beim Warten in der Bahn oder im Wartezimmer beim Arzt – wer zuerst alle Begriffe und Symbole gefunden hat, bekommt ne‘ Banane (bitte Adresse angeben)

MeckerBoss

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